Das Wörtlein




Das Wörtlein

Kürzlich kam ein Wort zu mir,
staubig wie ein Wedel,
wirr das Haar, das Auge stier,
doch von Bildung edel.

Als ich, wie es hieße, frug,
sprach es leise: »Herzlich«.
Und aus seinem Munde schlug
eine Lache Schmerzlich.

Wertlos ward ich ganz und gar,
rief's, ein Spiel der Spiele,
Modewort mit Haut und Haar,
Kaviar für zu viele.

Doch ich wusch's und bot ihm Wein,
gab ihm wieder Würde,
und belud ein Brieflein fein
mit der leichten Bürde.

Schlafend hat's die ganze Nacht
weit weg reisen müssen.
Als es morgens aufgewacht,
kam ein Mund – es – küssen.


Christian Morgenstern, 1871 - 1914




Gemälde: "Ein Herz für Aquarell" ©Isabella Kramer

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Ein Rudel kleiner Wolken

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Ein Rudel kleiner Wolken

Ein Rudel kleiner Wolken
Schwimmt durch die Abendhelle,
Wie graue Fische im Meere
Durch eine blendende Welle.

Und Mückenscharen spielen
Im späten Winde rege,
Sie tanzen zierliche Tänze
Am warmen staubigen Wege.

Und zwischen Wolken und Erde,
Über die Bäume, die schlanken
Zieh'n auf der Straße zum Monde
Die uralten Liebesgedanken.



Max Dauthendey, 1868 - 1918 





Photo copyright: Isabella Kramer
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Lebensfreudigkeit








Lebensfreudigkeit

Mir ist, als wäre jede Beere
Ein Born der Lebensfreudigkeit,
Als gäbe sie die große Lehre:
Gedulde dich, es kommt die Zeit!

Wie durch Millionen Sonnenstrahlen,
Die uns nur tagelang gestreift,
Mit Saft sich füllten unsere Schalen,
Bis wir zur süßen Frucht gereift.

So wird trotz allem welken Laube
Durch freier Seelen Sonnenglut
Der Menschheit volle Wundertraube
Erst in Erkenntnis reif und gut.




Richard Zoozmann, 1863 - 1934 


Photo copyright: Isabella Kramer

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