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Die Weiden
Still ein See. Und rings in tiefen Träumen
Eine Wacht von jungen Weidenbäumen.
"Wachset," ruft der Wind, "ihr jungen Recken,
Wär' ich jung wie ihr, ich würd' mich strecken!"
Höhnt der Sturm: "Ich wach', ihr Kümmerlinge,
Daß kein Baum bis in den Himmel dringe.
Wachst nur, wachst! Laßt junge Zweige treiben!
Werdet immer - kleine Weiden bleiben!"
Und die Weiden wuchsen, still bescheiden,
Und sie wurden mählich alte Weiden .....
Aber eine war, die sich empörte,
Da sie rauh des Sturmes Höhnen hörte.
Und sie bebte in geheimem Sehnen,
Bis zum Himmel ihren Stamm zu dehnen.
Aber ach, was auch die Jahre gingen,
Glückt' ihr's nicht, sich in die Höh' zu bringen.
Traurig war sie, ihre Äste reckend
Und sie weit bis übers Wasser streckend.
Da geschah es, daß sie in dem blauen,
Dunklen See den Himmel konnt' erschauen.
Und sie rief: "Ich brauch' zu meinem Glücke
Nichts, als daß ich mich hernieder bücke!"
Und sie beugte sich und jauchzt: "Ihr Brüder,
Seht, ich wachse in den Himmel nieder!"
Hugo Salus, 1866 - 1929
Foto copyright: Isabella Kramer
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