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Moderne Lebensweisheit
[Eine Epistel]
Komm' her, mein Sohn, ich will dich Weisheit lehren:
Zuerst vor allem ist es deine Pflicht,
Du mußt den König und die Kirche ehren,
Denn ohne diese beiden geht es nicht.
Dann mußt du mit der Polizei dich stellen
Auf guten Fuß – und mit den Hunden bellen
Nach Hundeart – doch darfst du unterdessen
Zurzeit dabei das Wedeln nicht vergessen.
Fehlt auch der Schwanz, man kann es so schon machen
Und sichert sich dabei recht schöne Sachen
An Gunst und Geld, du siehst es ja bei mir.
Zum Muster nimm dir auch das Schneckentier
Durch Überhastung schadet man sich viel
Wo du nicht geh'n kannst, kriech' gemach zum Ziel.
Auch übe dich recht fleißig im Lavieren
Dreht sich der Wind – du mußt es gleich verspüren
Und dich mitdreh'n – oft hält dies sehr genau
Sei nicht zu hitzig, doch auch nicht zu lau.
Hab' nie 'ne Meinung, die verstößt nach oben,
Und sei gewandt im Tadeln und im Loben,
Ganz selbstverständlich, wo's am Platze ist.
Daß du dich stets gerierst als guter Christ,
Als Patriot und stramme Ordnungsstütze,
Ist unerläßlich und zu vielem nütze.
Dann noch, mein Sohn, beherzige die Lehr':
Laß es an Lust und Müh' dir nicht verdrießen
Der Anfang ist in allen Dingen schwer
Sei nur beharrlich und du wirst genießen
Gar reichen Lohn, wenn erst die Ernte reif.
Wahr' stets den Schein – doch auf die Skrupeln pfeif,
Denn was man so im Leben nennt Gewissen,
Ist für die Dummheit gut – drum sei beflissen,
Das Ding den andern fleißig vorzuführen,
Dich selber darf's in keinem Fall genieren,
Emporzuklimmen auf der Lebensbahn
Das Wörtchen ›Ehre‹ ist ein bloßer Wahn.
Anseh'n ist gut – doch besser ist das Geld,
Und bist du erst zur Million geschnellt,
Ich sag' es dir zu deinem Nutz und Frommen,
So werden leicht noch Millionen kommen,
Und alles and're kommt von selbst mit an:
Die Titel, Orden und der Ehrenmann
Magst du auch im geheimen drüber lachen
Es hält die Welt gar viel auf solche Sachen.
Du aber, Sohn, beherzige zum Schluß
Die Quintessenz von meinem ganzen Rat:
Der Weisheit A und O ist der Genuß
Nach uns die Sündflut und – der Zukunftsstaat.
Heinrich Kämpchen, 1847 - 1912
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