Die Schneekönigin
Es kam einmal vom Himmel her ein Schlitten rot und weiß,
Vom Christkind unverhofft gebracht zum Lohn für Gerdas Fleiß.
Sie zählte schon das Einmaleins und schrieb das ABC,
Und jeden Morgen spähte sie nach dem ersehnten Schnee.
Heut stürmt sie nach dem Tannenrain, in Pelze eingehüllt,
Das Ohr mit weisem Mahnungswort, das Herz mit Glück gefüllt.
Schon sitzt sie, schaut sich trotzig um: "Achtung! Hurra! aus Weg!"
O weh, das steife Fuhrwerk bockt im Zickzack krumm und schräg
Mit offnem Mund keucht sie bergan, versuchts zum andern Mal.
Der Schlitten stolpert links und rechts, doch gleitet nie zu Tal.
Inzwischen dunkelts im Zenit. Ein flaumig Flockenheer
Flüstert vom Himmel leis herab, und einsam wird umher.
Ihr wird so bang, ihr wird so kalt, das Weinen steht ihr nah.
Und müder stets und matter tönt ihr klägliches Hurra.
Sieh da, was blinkt und schimmert dort im Tannendickicht? Schau,
Auf einem moosbewachsnen Strunk sitzt eine hehre Frau,
Im Königsmantel blank und rein, mit Hermelin bestickt.
"Soll ich dir helfen, gutes Kind?" versetzt sie. Gerda nickt.
Sie nimmt das Mädchen auf den Schoß, fein sanft und warm gewiegt.
Juch, wie mit lustgem Federschwung der Schlitten talwärts fliegt!
Verschwunden ist die Müdigkeit, das Auge jauchzt und strahlt.
Und unversehens glänzt die Welt mit Märchenschein bemahlt.
Es lebt der Wald, es singt die Luft, so hold, man glaubt es kaum.
Diamanten sprüht das Gletscherfeld und Sterne sprießt der Baum.
"Gerda!" erscholl der Mutter Ruf. Sie hört es mit Verdruß
Die Frau erschrickt, erhebt sich, flieht nach einem kurzen Kuß.
Nach sieben Tagen blies der Föhn vom Berge lau und lind.
Was weinen und was wimmern so die Glocken durch den Wind?
Schulmädchen folgen einem Sarg, den Wagen lenkt der Tod.
Verlassen steht im Kämmerlein der Schlitten weiß und rot.
Ein grünes Kränzlein liegt darauf mit einem Bibelspruch.
Und ewig klafft im Einmaleins ein ungelöster Bruch.
Carl Spitteler, 1845 - 1924
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Es kam einmal vom Himmel her ein Schlitten rot und weiß,
Vom Christkind unverhofft gebracht zum Lohn für Gerdas Fleiß.
Sie zählte schon das Einmaleins und schrieb das ABC,
Und jeden Morgen spähte sie nach dem ersehnten Schnee.
Heut stürmt sie nach dem Tannenrain, in Pelze eingehüllt,
Das Ohr mit weisem Mahnungswort, das Herz mit Glück gefüllt.
Schon sitzt sie, schaut sich trotzig um: "Achtung! Hurra! aus Weg!"
O weh, das steife Fuhrwerk bockt im Zickzack krumm und schräg
Mit offnem Mund keucht sie bergan, versuchts zum andern Mal.
Der Schlitten stolpert links und rechts, doch gleitet nie zu Tal.
Inzwischen dunkelts im Zenit. Ein flaumig Flockenheer
Flüstert vom Himmel leis herab, und einsam wird umher.
Ihr wird so bang, ihr wird so kalt, das Weinen steht ihr nah.
Und müder stets und matter tönt ihr klägliches Hurra.
Sieh da, was blinkt und schimmert dort im Tannendickicht? Schau,
Auf einem moosbewachsnen Strunk sitzt eine hehre Frau,
Im Königsmantel blank und rein, mit Hermelin bestickt.
"Soll ich dir helfen, gutes Kind?" versetzt sie. Gerda nickt.
Sie nimmt das Mädchen auf den Schoß, fein sanft und warm gewiegt.
Juch, wie mit lustgem Federschwung der Schlitten talwärts fliegt!
Verschwunden ist die Müdigkeit, das Auge jauchzt und strahlt.
Und unversehens glänzt die Welt mit Märchenschein bemahlt.
Es lebt der Wald, es singt die Luft, so hold, man glaubt es kaum.
Diamanten sprüht das Gletscherfeld und Sterne sprießt der Baum.
"Gerda!" erscholl der Mutter Ruf. Sie hört es mit Verdruß
Die Frau erschrickt, erhebt sich, flieht nach einem kurzen Kuß.
Nach sieben Tagen blies der Föhn vom Berge lau und lind.
Was weinen und was wimmern so die Glocken durch den Wind?
Schulmädchen folgen einem Sarg, den Wagen lenkt der Tod.
Verlassen steht im Kämmerlein der Schlitten weiß und rot.
Ein grünes Kränzlein liegt darauf mit einem Bibelspruch.
Und ewig klafft im Einmaleins ein ungelöster Bruch.
Carl Spitteler, 1845 - 1924
Gemälde Wikimedia Commons: The Snow Queen Illustration 1916 (Hans Andersen's Fairy Tales published by Rand McNally & Company, Chicago, 1916)