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Die Liebestat

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Die Liebestat

Dürftig das Dörfchen, dürftig das Feld,
ein einsamer Baum drauf Wache hält.
Nie hielten sich Zwei in seinem Schatten umpreßt,
nie baute ein Vöglein bei ihm sein Nest.
Auf steinigem Grund lag die Wurzel krank
und wußte dem Dasein wenig Dank.
Es zogen Lenze auf Lenze vorbei,
doch den kranken Baum verschönte kein Mai.
Das bläßliche Haupt zur Erde gesenkt,
glich er dem Bettler, der an sein Elend denkt.

Da, eines Abends wars zur Frühlingszeit,
kam langsam übern Weg ein junger Mensch,
mit Augen weit und voller Herrlichkeit.
Er sah das öde Feld, den Baum, den kranken,
die Zweige, die so ärmlich dürr und nackt,
und sann, von einem strahlenden Gedanken,
von einer göttlichen Idee gepackt.
Der Baum sah still den Mann vorübergehen.

Und einmal nahten viele, viele Menschen,
und drängten heimlich staunend sich um ihn,
als wär ein hohes Wunder hier geschehen.
Und rührige Hände spendeten ihm Trank,
und lockerten das Erdreich um ihn her,
und gruben, hackten, bis er glatt und schlank.
Der Baum, erschüttert bis ins tiefste Mark,
sah selig staunend diese fremden Gäste,
er fühlte sich mit einem Male stark,
und streckte, dehnte seine hagern Äste.
Vor Freude ward er blühend ...

Eines Morgens
erlebte er das schönste Frühlingsfest:
Zwei Vöglein drangen in sein dichtes Laub,
und bauten sich an seiner Brust ihr Nest.
Weit in die Winde seine Flocken streuend,
daß alle, die ihn sahn, vor Freude lachten,
besann er sich: wie ward mir solches Heil,
mir, dem Verkümmerten, mir, dem Verachten?
Ein heilig Dichterauge, weich und stolz,
hat dich erblickt und Wunder sprießen lassen,
o Baum, aus deinem halbverdorrten Holz!


Maria Janitschek, 1859 - 1927



Photo copyright: Isabella Kramer

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