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Die Kaktusblüte
Den Kaktus seht im Brand der Wüste,
Ein stachlichtes Gerippe nur!
Kein Tauwind, der ihn freundlich grüßte,
Den Eremiten der Natur.
Fest eingeklemmt in Felsenspalten
Scheint jeder Lebenstrieb erstarrt.
Mit Staub bedeckt die Runzelfalten,
Da sehnlich er der Blüte harrt.
Und endlich fühlt den Saft er drängen
In seinem Innern voller Macht:
Ein Knösplein, sieh, die Rinde sprengen
Beim Zauberruf der Sommernacht.
Und voller wird‘s von Stund‘ zu Stunde;
Es kreist der Saft in heißem Lauf.
Da geht ein keuchten durch die Runde,
Da geht das schöne Wunder auf.
Viel süßer als die Südlandsrose
Und leuchtender als Lilienpracht,
Im Mondlicht blüht die makellose,
Die Königin der Wüstennacht.
Doch wirren Spiels beim Morgengrauen
Durchs Wüstenland die Dolde treibt,
Verschrumpft und trostlos anzuschauen
Das stachlichte Gerippe bleibt.
Nur duftig haftet im Gemüte
Das Märchen seiner kurzen Pracht,
Bis wieder einst die Wunderblüte
Sich öffnen mag der Sommermacht.
Johannes Rothensteiner, 1860 - 1936
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